Chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED) mit oft heftigen Krankheitsschüben bedeuten eine schwere Belastung für die betroffenen Menschen. Dank moderner Medikamente und OP-Verfahren ist trotzdem ein fast normales Leben möglich, wie Dr. Donata Lissner, Leiterin des Interdisziplinären Zentrums für chronisch entzündliche Darmerkrankungen im St. Joseph Krankenhaus Berlin-Tempelhof, und Sonja Arens, Landesbeauftragte der Deutschen Morbus Crohn/Colitis ulcerosa Vereinigung e.V. (DCCV), versichern.
Frau Arens, Sie leben selbst seit über vier Jahrzehnten mit Morbus Crohn, leiten Selbsthilfegruppen und beraten Betroffene. Was ist Ihre wichtigste Botschaft für Menschen, die die Diagnose CED erhalten?
Sonja Arens: Meine wichtigste Botschaft lautet: Das Leben geht weiter! Viele denken, ihr Leben ist jetzt vorbei. Nein, das ist es nicht. Es wird anders, sage ich immer. Auch wenn die Krankheit nie wieder weggeht und man selten oder auch nie wieder ohne Symptome sein wird, kann man mit CED studieren und arbeiten, reisen, Sport machen, Sex haben und Kinder bekommen. Aber man muss lernen, die Erkrankung zu akzeptieren und mit ihr zu leben. Meiner Erfahrung nach dauert das bei den meisten fünf bis zehn Jahre.
Frau Dr. Lissner, können Sie uns bitte kurz erklären: Was sind chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED)?
Dr. Donata Lissner: CED sind Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes, bei denen chronische Entzündungen des Verdauungstraktes auftreten, verursacht durch eine Dysregulation — also, eine Fehlfunktion — des Immunsystems. Genetische Faktoren spielen dabei eine Rolle, aber auch Umweltfaktoren wie zum Beispiel Rauchen. Die meisten erkranken schon als Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene. Wobei wir aber auch zunehmend ältere Menschen als Erstpatienten sehen.
Was sind Symptome, auf die man achten sollte?
Dr. Lissner: Die beiden häufigsten CED sind die Colitis ulcerosa, bei der der Dick- und Enddarm entzündet ist, und der Morbus Crohn, wo der gesamte Magen-Darm-Trakt betroffen sein kann. Die typischen Symptome sind ständige Bauchschmerzen, anhaltender Durchfall, der oft auch blutig ist, und Gewichtsverlust. Bei Kindern können Wachstumsstörungen auftreten. Und beide Erkrankungen manifestieren sich auch extraintestinal — das heißt, sie verursachen Symptome außerhalb des Darms, zum Beispiel an der Haut oder den Gelenken.
Das Interdisziplinäre Zentrum für CED im St. Joseph Krankenhaus bietet jährlich ein Arzt-Patienten-Seminar an — und Ihre Selbsthilfeorganisation DCCV ist daran beteiligt. Warum?
Arens: Weil solche Seminare sehr wichtig sind — sowohl für Menschen, deren Diagnose ganz neu ist, als auch für Erkrankte, die sich über aktuelle Therapien auf dem Laufenden halten wollen. Wir arbeiten mit verschiedenen Krankenhäusern und CED-Zentren eng zusammen. Ich empfehle allen Betroffenen, einmal im Jahr ein solches Arzt-Patienten-Seminar zu besuchen, am Anfang der Erkrankung vielleicht sogar öfter, um zu lernen: Was bedeutet diese Krankheit? Wie gehe ich damit um? Welche Behandlungsansätze gibt es? Aber auch: Wie gefällt mir das ärztliche Team in diesem Haus? Nach welcher Philosophie wird hier behandelt? Gerade, wer mit einer chronischen Erkrankung konfrontiert ist, braucht den passenden Arzt oder die passende Ärztin an seiner Seite.
Wer ist denn passend?
Arens: Jemand, der aufklärte Patienten aushält. (lacht) Wir empowern ja letztlich die Patientinnen und Patienten mit einem solchen Arzt-Patienten-Seminar.
Wie wichtig ist der Arzt-Patienten-Austausch bei CED?
Dr. Lissner: Extrem wichtig. Erstens muss ich wissen, wie es dem Patienten oder der Patientin geht. Denn Ziel der Behandlung ist ja die Symptomfreiheit. Laborwerte und weitere Diagnostik, wie Ultraschall oder Endoskopie, sind dabei eine Unterstützung. Und zweitens muss ich immer wissen, in welcher Lebenssituation der — oder diejenige gerade ist:
Besteht ein Kinderwunsch? Dann müssen wir vielleicht die Medikation umstellen. Will jemand verreisen? Im Ausland studieren? Die Medikamente lieber in Tablettenform nehmen, sich spritzen oder sie als Infusion bekommen? Das ist bei jedem unterschiedlich, darauf muss man eingehen.
Das klingt sehr aufwändig.
Dr. Lissner: Das finde ich aber auch das Schöne an meiner Arbeit: Wir sehen die Menschen in ihrer Gesamtheit. Als CED-Spezialistin betreut man die Patientinnen und Patienten über lange Jahre durch alle Höhen und Tiefen und weiß von vielen, was sie beruflich machen und wo der nächste Urlaub hingeht. Das ist fast wie in einer Hausarztpraxis. Nur dass wir im CED-Zentrum im St. Joseph Krankenhaus als Experten-Team zusammenarbeiten und uns eng abstimmen: Wir haben die Gastroenterologie für Erwachsene, außerdem Ahlke Willenborg als eine der wenigen Kinder-Gastroenterologinnen in Berlin und das Chirurgie-Team unter Leitung von Prof. Jörn Gröne, mit denen ich schon seit vielen Jahren gemeinsam CED-Patienten behandele. Wenn wir dann gemeinsam erreichen, dass es unseren Patientinnen und Patienten wieder besser geht, ist das eine große Freude.
Aus Sicht der DCCV — was sind die krassesten Fehler, die Sie im Umgang mit der Krankheit beobachten?
Arens: Es ist besonders erschreckend zu sehen, dass es immer noch CED-Patientinnen und -Patienten gibt, die ausschließlich und langfristig mit Kortison behandelt werden. Selbst schon lange diagnostizierte und eigentlich gut aufgeklärte Menschen lassen sich immer wieder Kortison verschreiben, statt sich in fachärztliche Behandlung zu begeben.
Dr. Lissner: Kortison ist ein super Medikament für den akuten Schub, weil es die Entzündung schnell unterdrückt. Aber langfristig ist es mehr Fluch als Segen, weil es auf Dauer irrsinnige Nebenwirkungen hat – Osteoporose, Knochenbrüche, dünne Haut, Mondgesicht. Dabei haben wir inzwischen so viele verschiedene Medikamente, die bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wirken. 2023 darf eigentlich niemand mehr eine Langzeit-Kortisontherapie bekommen.
Noch ein Tipp?
Arens: Wenn die Diagnose kommt, bricht für viele Erkrankte die Welt zusammen, und dann ist die größte Herausforderung: Woher bekomme ich Informationen? Tun Sie sich einen Gefallen: Geben Sie nicht dem Impuls nach, in Foren alles nachzulesen oder vermeintlichen Wundermitteln zu folgen, die irgendwo angepriesen werden. Ihr Freundeskreis meint es gut und wird im Stakkato auf Sie zukommen mit Tipps aus bunten Magazinen. Schauen Sie sich das nicht an, sonst werden Sie verrückt.
Dr. Lissner: Wir empfehlen gerne die DCCV. Erstens weil das eine unabhängige Vereinigung ist, die hervorragend alles, was man wissen muss, aufbereitet. Und zweitens, weil der Austausch unter Betroffenen extrem wertvoll ist.
